Recherchen zu den „Schießgebieten“ vor der Küste von Mecklenburg-Vorpommern
Ausgelöst durch Kampfmittelfunde bei Sandaufspülungen im Jahr 2015 ergab sich der Verdacht, dass die für Schießübungen in den Küstengewässern vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns betroffenen Flächen deutlich größer sind als bis dahin beim Munitionsbergungsdienst Mecklenburg-Vorpommern (MBD MV) bekannt.
Nachdem zunächst selbst durchgeführte Recherchen ergaben, dass diese Herkulesaufgabe nicht durch das Personal des MBD MV „nebenbei“ mit erledigt werden kann, wurde ein geeignetes Sachverständigenbüro mit den Recherchen beauftragt. Bereits 2018 wurde ein umfangreiches vorläufiges Rechercheergebnis vorgelegt, Ende 2020 konnte dann die Recherche als weitgehend abgeschlossen angesehen werden – weitere Nachrecherchen z.B. in den Kriegsausführungen der „Nachrichten für Seefahrer“ 1939 bis 1945 laufen derzeit, werden aber keine wesentlichen Änderungen der bisher erlangten Erkenntnisse ergeben.
Für den Recherchezeitraum 1870/71 bis 1990 wurden in den Küstengewässern von Mecklenburg-Vorpommern anhand von 2.083 Einzelmeldungen insgesamt 313 Schießgebiete ermittelt:
| Periode | Zeitraum | Anzahl Meldungen | Anzahl Schießgebiete |
Fläche Schießgebiete |
| Deutsches Kaiserreich | 1870 - 1918 | 89 | 20* | 706,451 km² |
| Weimarer Republik | 1918 - 1933 | 84 | 25 | 1.634,062 km² |
| III. Reich | 1933 - 1945 | 515 | 209 | 7.059,691 km² |
| SBZ | 1945 - 1949 | 1 | 1** | 213,414 km² |
| DDR | 1949 - 1990 | 1364 | 58 | 4.763,823 km² |
Erläuterungen: * zzgl. bis zu 4 derzeit nicht lokalisierbaren Schießgebieten / ** bislang nur 1 Schießgebiet nachweisbar, aber ca. weitere 9 Schießgebiete aufgrund der Historie (Vornutzung Wehrmacht bzw. Nachnutzung GSSD) und der Rahmenbedingungen (Lage, ...) vermutet
Mit dem Bau von „Werk IV / Batterie A“ (später Westbatterie bzw. Batterie Henningsen) als Küstenbatterie westlich der Swine dürfte zwischen 1856 und 1861 das erste Schießgebiet im Bereich des heutigen Küstengewässers von MV entstanden sein, allerdings fehlen zum Übungs-/Schießbetrieb bislang jegliche Unterlagen, so dass die betroffenen Gebiete nach Lage der Geschützstellungen (Barbetten)/Schießscharten angenommen werden.
Das erste aktenkundige Schießgebiet wurde im September 1871 im „Wohlenberger Wiek“ eingerichtet, da das Ostseegeschwader für Schießübungen aufgrund von akutem Platzmangel in der Kieler Bucht hierhin ausweichen musste. Das Artillerieschulschiff SMS „Renown“ mit Kanonen der Kaliber 15 cm, 21 cm und 24 cm im Jahr 1871 sowie die Schulfregatte SMS „Niobe“ mit 12 cm und 15 cm Ringkanonen (1872 – 1876) machten hier den Anfang.
Der Schwerpunkt der Nutzung der Schießgebiete lag dann im „III. Reich“, wobei man ab 1934 die stetig steigenden Anstrengungen zur Herstellung der Kriegsfähigkeit Deutschland auch anhand der ständig steigenden Anzahl sowie der zunehmenden Dauer der Schießübungen und die Verbesserung der Waffentechnik an den sich ständig ausdehnenden Grenzen der Schießgebiete nachvollziehen kann.
Hierbei kamen auch anzahlmäßig die meisten und verschiedenste Waffensysteme (Flugabwehrkanonen verschiedener Kaliber, Schiffs- und Küstenartillerie zur Bekämpfung von Seezielen, Torpedoschießübungen, Übungen mit Seeminen, Abwurf von Bomben und ersten Luft-Boden – Lenkwaffen) zum Einsatz.
Im „Kalten Krieg“ wurden einige dieser Schießgebiete dann wieder in die Nutzung durch die NVA und verbündeter Streitkräfte übernommen.
Unabhängig vom Nutzungszeitraum erfolgten die Schießübungen auch unter Verwendung von (scharfer) Gefechtsmunition.
In den anliegenden Kartendarstellung sind die sich aus den im Zeitraum durch die einzelnen Schießgebiete insgesamt ergebenden kampfmittelbelasteten Flächen dargestellt, innerhalb derer auf dem Meeresgrund mit dem Vorhandensein von Kampfmitteln aus den verschiedensten Schießübungen zu rechnen ist. Diese Flächen sind insgesamt, aber mit unterschiedlicher Dichte mit den Hinterlassenschaften der militärischen Übungen belastet, bei Flakschießgebieten z.B. mit extrem viel Schrott (den Splittern der sich mit Zeitzünder in der Luft zerlegenden Übungsgranaten mit kleiner Zerlegerladung) und nur vereinzelt Blindgänger. Dementsprechend ist die Kampfmittelbelastung nicht mit "Versenkungsgebieten" zu vergleichen, in denen in kleineren Flächen große Mengen an Munition durch Versenken „entsorgt“ wurden!
Der MBD M-V wird diese Flächen in sein Kampfmittelkataster übernehmen. Grundlage der Einstufung dieser Flächen ist Kapitel 5.2 „Kategorisierung von kampfmittelverdächtigen und kampfmittelbelasteten Flächen“ der Baufachlichen Richtlinien Kampfmittelräumung, hiernach erfolgt die Einstufung in die Kategorie 3:
Die festgestellte Kampfmittelbelastung stellt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Gefährdung dar. Sie ist zu dokumentieren. Bei Nutzungsänderungen und Infrastrukturmaßnahmen ist eine Neubewertung durchzuführen. Daraus kann sich ein neuer Handlungsbedarf ergeben.
Für die bisherige nicht bodeneingreifende Nutzung (z.B. durch Fischerei und Schifffahrt) ergeben sich somit auch zukünftig keinerlei Einschränkungen, genauso wenig für die touristische Nutzung der Strände. Allerdings ist bei allen bodeneingreifenden Maßnahmen (z.B. Sandentnahmen) oder auch bei allen zukünftigen Infrastrukturmaßnahmen (wie z.B. dem Bau von Offshore-Windparks sowie deren Anbindung) die nunmehr dokumentierte mögliche Kampfmittelbelastung zu berücksichtigen.
Robert Mollitor
Leiter MBD MV
